Florian Albrecht-Schoeck

Teil II: Vom Rebellen zum Affen – Viva la Evolución
Teil II: Vom Rebellen zum Affen – Viva la Evolución
22. September 2021

Teil II: Vom Rebellen zum Affen – Viva la Evolución

Aus der Ferne konnte man es schon hören und erahnen. Aber als ich davor stand, fühlte sich das irgendwie befremdlich an: Ein Volksfest. Ich sah, wie sich unzählige Menschen dicht an dicht Richtung Festplatz drängten. Die Menschenmasse schob sich unbeirrt eng beieinander gegenseitig zum Eingang des Festplatz-Geländes. Am Eingang wurde dann per 3G Regel der Einlass kontrolliert. Ich blieb stehen und schaute von Weitem etwas zu. Es war bereits dunkel und auf einmal fiel mir zwischen all den bunten Lichtern, Fahrgeschäften und Schaustellern ein Schriftzug auf: VIVA LA EVOLUCIÒN. Daneben ein Affenkopf mit Zigarre im Mund, sichtlich inspiriert vom weltberühmten Konterfei von Ernesto Che Guevara.

Impuls eins und zwei
Mein erster Impuls war, meine Kamera aus meinem Rucksack heraus zu holen. Ich ging ein paar Schritte zurück, wartete bis kein Auto oder Fußgänger im Bild war, und machte das Bild welches diesen Blog-Artikel bebildert. Mein zweiter Impuls war mir darüber Gedanken zu machen, warum jemand aus dem Konterfei eines Rebellen einen Affen macht und „evolutión“ statt „revolución“ vor „Viva la“ austauscht. Klar macht ein Affe mit Evolution aus einem darwinistischen Blickpunkt beispielsweise Sinn. Vielleicht hat sich auch mittlerweile ein Hedgefonds oder Konzern die Bildrechte an Ernesto Che Guevara in sein profitorientiertes Portfolio aufgenommen. Vielleicht umgeht man daher mit Affe mögliche Lizenzkosten an einem im Krieg erschossenen Rebellen, ich weiß es nicht. Wie ich so da stand und immer mehr in meinen Gedanken abdriftete, alarmierte mich meine Amygdala über eine möglich drohende Gefahr, welche sich anbahnte. Ohne nachzudenken sprang ich reflexartig aus dem Stand nach hinten. Wenige Zentimeter an mir vorbei raste im dunkeln ein sichtlich übermotivierter junger Mann, schätzungsweise Mitte/Ende 20 mit einem gepflegten Bart auf seinem Schwerlastenfahrrad an mir vorbei. Mein: „Alter mach mal langsamer“, was ich ihm hinterher rief blieb unkommentiert. Wireless-Bluetooth-In-Ear-Kopfhörer verhinderten vermutlich das meine produzierten Schallwellen bei ihm im Ohr ankommen konnten. Als ich sah, wie der Radfahrer im Dunkeln verschwand, fragte ich mich, ob die Verletzungsgefahr bei einem Zusammenprall mit einem Schwerlastenfahrrad, sich dem mit einem Kleinwagen ähneln würde.

Es ist immer der Mensch
Zurück zu dem Affen und der damit verbundenen Evolution bzw. Revolution. Ich stand weiterhin am Straßenrand und beobachtete das Szenario um den Affenkopf herum. Dort schleuderten abenteuerliche Fahrgeschäfte im Rahmen der allgemeiner physikalischen Belastbarkeit Menschenkörper wild durch die Luft. Bei manchen Schreien wusste konnte man nicht erkennen, ob sie aus Freude oder puren Leid geschahen. Wer weiß, manch Einer konnte es nach 1,5 Jahren Homeoffice vielleicht gar nicht erwarten seinen Körper dank Zentrifugalkraft an einem Plastiksitz gedrückt zu wissen. Manch Anderer bereute möglicherweise das kalte Bier und die zuvor gegessene Rostbratwurst, während sie oder er mit über 50 km pro Stunden durch die Luft gewirbelt wurde. Ich stand da und dachte weiter nach. Ich kam zu dem Ergebnis, das egal wie man es auch dreht und wendet, gut findet oder nicht, die Fahrgeschäfte, der Affenkopf, die Begriffe Revolution und Evolution, das Schwerlastenrad, alles eines gemeinsam haben: Die Dinge an und für sich können für gar nichts. Es ist immer die Frage, was der Mensch aus etwas macht.

Und jetzt?
Was soll ich jetzt mit Alldem anfangen? Vielleicht ist es im Endeffekt egal. Es ist egal, ob ich mich über den Radfahrer aufrege. Es ist egal, ob ich es moralisch fragwürdig finde wenn ein berühmtes Konterfei so umfunktioniert wird. Es ist auch egal, ob ich das Volksfest in einer Pandemie sinnvoll finde oder nicht. Aber was ist dieses „Egal“? Heißt es das mir alles egal sein kann was nicht unmittelbar mit mir zu tun hat? Ist das die logische Konsequenz einer im Überfluss lebenden Gesellschaft, in der alle Werte und Normen auf das Individuum fokussiert sind und der Begriff Solidarität nur noch als Buzzword auf Wahlkampfplakaten einen Platz findet? Schlussendlich und scheinbar ja, das würde auch erklären wie aus einem Rebellen ein Affe werden kann.

Alles Gute.

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