Florian Albrecht-Schoeck

Teil XIII: Billige Tiefkühl-Frikadellen, ein deutscher Kraftfahrzeughersteller, System abstürzende Busse und ganz viel Armut. 
Aus meinem Künstler Blog: “Teil XIII: Billige Tiefkühl-Frikadellen, ein deutscher Kraftfahrzeughersteller, System abstürzende Busse und ganz viel Armut.”
25. Februar 2024

Die Sicherheitsleute machten auf mich einen emotional ergriffenen Eindruck, als sie dem Mann ohne Schuhe in der S-Bahn versuchten zu helfen. In dunkelgrünen Wollstrümpfen und verwirrt anmutend, bewegte er sich langsam und sichtlich desorientiert durch das S-Bahn-Abteil. Ob er geistig verwirrt war oder vielleicht auf Drogen kann ich nicht einschätzen. Jedoch hatte ich den Eindruck, dass die Sicherheitsleute trotz ihrer dunklen, und martialisch anmutenden Uniform, versuchten so hilfsbereit und sensibel wie möglich auf den Mann einzuwirken. Das Tränengas und die Schlagstöcke, welche an den Gürteln ihrer Uniform befestigt waren, verlieh ihnen zwar einerseits etwas von einem Krieger, dies geriete durch ihre nette Wortwahl aber anderseits glücklicherweise in dieser Situation in den Hintergrund. Auf der Suche nach einem Sitzplatz passierte ich diese Situation und ging im Waggon weiter. Wie die Geschichte ausging, kann ich nicht sagen. Ich hoffe, dass jeder an diesem Abend sein Weg ohne Umwege und friedlich nach Hause fand.

Ich setze mich und stelle meinen Rucksack vor mich auf den Boden. Mit meiner Mütze auf dem Kopf, lehnte ich meinen Kopf an dieses schwarzblau gemusterte Kopfteil des S-Bahnsitzes. Ich schloß meine Augen und lauschte der Musik, welche durch meine Kopfhörer alle anderen Geräusche um mich herum annullierte. Plötzlich spüre ich, wie eine Bewegung sehr nah vor meinem Kopf Richtung Fenster stattfindet. Ich öffne die Augen und sehe eine Stoffdecke, welche den Körper eines sehr dünnen Mannes, mittleren Alters bedeckt. In dem Moment, in dem ich meine Augen öffne, schaut er in den kleinen grauen Mülleimer der S-Bahn, um ihn nach einem kurzen Blick ins Innere wieder zu schließen und zum nächsten zu gehen. Ich vermute, dass er Pfandflaschen sucht. Das Muster seiner Decke, welche sichtlich als Ersatz für eine Jacke mitten im Februar dient, gleicht dem Muster der S-Bahnsitze. Jedoch mit nur einem Unterschied: sie ist nicht Schwarzblau, sondern Blauweiß gemustert. Ich schaue ihm hinterher und beobacht, wie er in fast zerfallenen Flipflops, barfuss darin einen kleinen vorsichtigen Schritt vor den anderen setzt. Dabei von 4er-Sitz zu 4er-Sitz, von Mülleimer zu Mülleimer geht, bis er für mich am Ende des Waggons aus meinem Sichtfeld verschwindet. Ich atme durch, diese Armut zu sehen, nimmt mich extrem mit. Auch waren das jetzt zwei traurige Erlebnisse binnen weniger Minuten in der S-Bahn auf dem Weg zu einem engen Freund von mir, welchen ich diesen Abend besuchen möchte. Ich erreiche mein Zielbahnhof am frühen Abend. Ich steige aus, der Bahnsteig ist voller Menschen. Ich vermute, es sind viele Personen, welche heute bis 20:00 Uhr arbeiten mussten, und nach ihrer verrichteten Lohnarbeit, nun auf dem Weg nach Hause sind. Im kollektiven Strom lasse ich mich treiben, um fast schon automatisch durch den Bahnhof, umgebene von Menschen zur Bushaltestelle, mit getragene zu werden.

Mein Bus kommt, ich steige ein. Ich schaue auf die montierten Bildschirme an der Busdecke. Ich sehe die geplanten Haltestellen, auch meine ist dabei. Rechts daneben werden auf dem Monitor wechselnde Werbeanzeigen lokaler Anbieter gezeigt. Der Bus fährt nicht los. Ich nehme die Kopfhörer ab, und schaue mich um. Die Türen gehen auf, zu, auf, zu usw. Plötzlich gehen die recht modernen Bildschirme auch aus. Während die Türen sich nicht entscheiden können, ob sie auf oder zu sein wollen, blinken die Bildschirme wieder kurz auf. Ich sehe ein Betriebssystem booten. Ich denke mir: Ist der Bus abgestürzt, so willkürlich im Still eines „Bluescreen“ in den 90er und 2000 Jahren? Die Technik macht sichtlich nicht das, was sie soll. Den Busfahrer kann ich von meinem Sitz aus nur als Reflexion in einer Fensterscheibe neben ihm im Bus beobachten. Dieser macht aber einen sehr entspannten Eindruck. Nach einigen weiteren Minuten, haben die Türen sich beruhigt. Auch die Bildschirme zeigen wieder auch alles vermutlich korrekt an, der Bus fährt los.

Die verlorenen Minuten versucht der Busfahrer sichtlich mit seinem sportlichen Fahrstill wieder aufzuholen. Während der Bus oftmals recht schwungvoll in die Kurven gesteuert wird, schaue ich aus dem Fenster, und erkenne ich Stadt, in der ich selbst überwiegend aufgewachsen bin, kaum wieder. Die Strassen ziehen sich noch immer wie damals durch die Viertel hindurch. Die Gebäude, welche aber diese Strassen allerdings einst einrahmten, gibt es oftmals nicht mehr. Meistens wurden sie durch Neubauten ersetze, welche in jeder Stadt identisch aussehen: helle Fassaden, überall 90 Grad Winkel, Flachdächer, optisch anmutend wie sozialistische Plattenbauten, aber mit dem Unterschied nicht so hoch gebaut zu sein und größere Fenster zu besitzen. Natürlich gehören zu den Immobilien selbstverständlich auch gedruckte Hochglanz-Werbebroschüren, und die dazugehörige MaklerInnen mit eigenen Social-Media-Kanälen!

Der Bus wird langsamer und hält an, die Türen gehen auf. Hinter der Haltestelle war damals eine Wiese mit einem kleinen Kiosk darauf, erinnere ich mich. Das war eines dieser Kioske, welche optisch wie eine niemals fertiggestellte Garten-Laube aussahen, und flankiert von ein paar Zeitungs-Aussteller immer einen mehrwürdigen Geruch besaßen, welcher sich meist aus den Kompetenten: Eiswaffeln, alten Filterkaffee, Export-Bier, Zigarettenrauch und alten Bratfett zusammensetze. Im „Nebenraum“ des Kioskes, in dem es unmöglich war, wegen des Zigarettenrauchs und fehlender Lichtquellen etwas zu sehen, konnte man immer nur die Umrisse überwiegend ältere Männer erahnen. Diese saßen schon morgens dort drinnen, auch im Sommer, um in Geselligkeit ihr Export-Bier kollektiv zu frühstücken. Ich habe dort noch zu DM-Zeiten, mir mal für zwei Mark fünfzig ein Frikadellen-Brötchen gekauft. Warum ich hier war, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch an die in der Mikrowelle aufgewärmten Tiefkühl-Supermarkt-Buletten, welche alles andere als liebevoll in zwei ausgetrocknete Brötchenhälfte gelegt wurde, und auf meinen Wunsch, geschmacklich und für die Optik von einer Curry-Ketchup-Portion übertrumpft wurden. Dort, wo diese vermeintlichen Überbleibsel des deutschen Wirtschaftswunders einst stand, war nun keine Wiese mit Kiosk mehr. Mich lächelte die hell leuchtende Fassade eines Autohauses, eines deutschen Kraftfahrzeugherstellers an, welcher überwiegend Sportwagen produziert. Die MaklerInnen all der Neubauten, an denen ich eben vorgefahren bin, sind da sicher Stammkundinnen. Ich stelle mir vor, wie die MaklerInnen, nachdem sie man mal wieder eine völlig überteuere Wohnung veräußert haben, im Autohaus laut bei einem kostenlosen entkoffeinierten Cappuccino darüber nachdenken, ob vielleicht nicht doch die dunkle und matte-Autolackierung besser zum eigenen Charakter passt.

Noch ein paar Stationen, dann kommt meine Haltestelle. Angekommen steige ich aus. Ich laufe in Gedanken versunken in Richtung des Zuhause meines engen Freundes. Der Mann ohne Schuhe und der Mann mit der Decke als Jacke in der S-Bahn, die modernen Neubauten, Frikadellen-Brötchen und die unbezahlbaren Sportwagen. Für mich passen alle diese Eindrücke in einem der weltweit wohlhabendsten Länder dieser Welt, so nicht zusammen. Zu extrem empfinde ich die Abstände zwischen Reich und Arm, oben und unten, haben und Nichthaben. Ich verliere mich zunehmend in meinen eigenen Gedanken: Ist das scheinbare Akzeptieren der Armut und Ungerechtigkeit der Preis, den wir als Gesellschaft in einem Neoliberalen-Kapitalistischen-System akzeptieren? Ich bin sichtlich emotional von dieser Fahrt mit genommen. „Unsere Welt ist wirklich richtig kaputt“, denke ich mir. Wir sollten sie zu einem besseren und gerechten Ort für alle Menschen gleichermaßen versuchen zu machen, denke ich mir. Das kann doch nicht sein, dass ganz unten sein, und ganz oben so extrem nah im Alltag beisammen liegt? Aber die Verteilung so mega unfair ist …

… Angekommen.

Ich stehe ich vor der Haustür.

Ich ziehe mein Smartphone aus der Jackentasche und stoppe die Musik, welche mich durchgehend begleitet hat und nehme meine Kopfhörer ab. Ich schaue auf die Kopfhörer und denke mir: „Verdammt, ich ertrage diese moralische Kälte nicht, aber trage dabei selbst jetzt in diesem Moment Kleider und auch Geräte an und mit mir herum, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit unter schlechten Bedingungen an einem mir unbekannten Ort auf dieser Welt produziert wurden“. Ich werfe noch einen Blick auf meine Schritte-Zähl-App, die Social-Media Apps, die Sportergebnisse App, meine E-Mail App, welche all die moralischen Fragen in meinem Gehirn für einen Moment etwas verdrängen.

Was mache ich hier gerade, frage ich mich?
Ich klingle. Das Summen des Türöffners signalisiert mir, dass die Tür durch einen elektrischen Impuls geöffnet wurde. Ich gehe rein.
Ich freue mich jetzt darauf, Zeit mit meinem besten Freund zu verbringen.

Ich bin angekommen, für einen Abend zu mindestens.

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