Florian Albrecht-Schoeck

Teil XII: Zweitausend drei und zwanzig: Ein persönlicher Jahresrückblick in einer Welt, in dem meine Schuhe wie Enten auf Crack klingen, und sich umgeben von Angeboten, die Menschheit scheinbar selbst nicht mehr verstehen möchte.
Ein persönlicher Jahresrückblick von Florian Albrecht-Schoeck.
28. Dezember 2023

Mein persönlicher künstlerischer Jahresrückblick beginnt im Dezember: Es sind ca. milde 12 Grad und es regnet in Strömen. Ich bin auf dem Weg nach Hause und benötige Hafermilch, Bananen, Milchreis, Brot, Schinken, Magnesium und Orangensaft.
Durchnässt erreiche ich, das von meinem Zuhause nicht weit entfernte Neubauviertel. Zu diesem architektonisch wahr gewordenen feuchten Traum einiger ImmobilienmaklerInnen, wurde innerhalb des neuen Stadtteiles auch ein komplettes Einkaufszentrum mit errichtete. Es besteht aus einem Supermarkt, einem Bio-Laden, einer Drogerie, einem Bäcker, einer Apotheke, einer Textilreinigung, einem Kiosk, einer Eisdiele, einem Friseursalon, einer Bar, einem Café, einem Fitnesscenter, ein paar Rolltreppen und einer Tiefgarage. Zusätzlich bieten einige dieser Geschäfte Services verschiedener Paketzusteller an. Grob gesagt ist dort vieles zu finden, was der durchschnittliche Erwerbstätige und gestresste Office-Mensch von heute für sein Überleben scheinbar benötigt, von: Fair-Trade-Bio-Produkten und Discount-Angeboten, über Windeln für Jung und Alt, Beta-Blocker und Psychopharmaka bis zu Annahmestellen für Onlinebestellung-Retour-Sendungen. Alles scheint dort für die verschiedenste Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts in Mitteleuropa, auf wenig Raum vereint zu sein.

More Shiny than Happy People
Hinter mir schließt sich automatisch und geräuschlos die verglaste Schiebetür des Einkaufszentrums, welche mir einen kurzen Moment zuvor den Zutritt gewährte. Nun stehe ich auf einem weiß marmorierten Fußboden in dem sich die Deckenleuchten, mit der überaus charmanten Farbtemperatur einer Metzgerei im Boden spiegeln. Ich frage mich, wer suchte solch ein furchtbares Licht aus? Der Gang, in dem ich jetzt stehe, zieht sich von meiner Position aus, wie in einer Kaserne, humorlos, strikt, geordnet und gerade einem leuchtenden Ende entgegen. Am gewissermaßen Horizont dieses Ganges wartet ein gewaltiges leuchtendes Logo einer Supermarkt-Kette auf all diejenigen, die das vermeidliche Ziel des Ganges erreichen. Das Logo leuchtet um einiges heller als die Deckenbeleuchtung. Dadurch bekommt das Logo schon fast etwas Sakrales: Es wirkt erhaben, leuchtend und über allem schwebend. Ich laufe dem vermeintlich guten Ende entgegengehen.
In welche Richtung ich meine Augen auch bewege, überall gewähren mir Glasscheiben Einblicke in die jeweiligen Geschäftswelten. Es beginnt mit einer auffälligen langen Warteschlange in der Apotheke. Das dort vereinzelt kränkliche husten in der Warteschlange, ist bis zum Kiosk nebenan zuhören. Im Kiosk fuchtelt jemand aufgebracht an der Theke in Richtung der sichtlich angestrengten Verkäuferin mit einem Zettel aus seinem Briefkasten herum und wiederholt energisch und non Stop den Satz: „Das ist mir aber egal, ich war Zuhause, bei mir hat niemand geklingelt, wo ist mein Päckchen!“.
Gleich daneben dominieren scheinbar Glückshormone wie Serotonin und Dopamin das sichtlich gelassene Verhalten der aus dem Fitness-Studio schlenderten Personen.
Es ist schon verrückt, wie sich gesellschaftliche Rituale verändern: Vor gar nicht so langer Zeit pilgerten viele Menschen nach der Arbeit direkt in die Eckkneipe nebenan und nicht in ein Fitness-Studio. Vielleicht gibt es in einigen Städten schon mehr Fitness-Studios als Kneipen? Ich weiß es nicht. Stellen Fitness-Studios die neuen Treffpunkte der bürgerlichen Mitte dar? Oder zählt man einfach heutzutage lieber die verbrannten Kalorien auf der Fitness-App, anstatt die gesammelten Striche auf dem Bierdeckel in seiner Lieblingskneipe.
Wenn man auf die Kneipe verzichtet, schleppt man sich auch eher mit Muskelkater statt mit Promille im Blut friedlich nach Hause, um erschöpft von seinem Leben ins Bett zu fallen. Klingt vernünftig. Natürlich ist es sicher besser, Sport zu machen, anstatt Alkohol zu trinken. Aber warum konsumieren Menschen freiwillig Dinge wie Alkohol, genauer gesagt versetzen sich in einen Rausch? Oder wieso verausgaben sich Menschen freiwillig auf einem Laufband oder einer Rudermaschine und zahlen auch Geld dafür? Geht es schlußendlich vielleicht immer nur um ein wenig Glück? Also einer Form von Abschalten? In etwa so wie das leuchtende Supermarkt-Schild am Ende dieses Ganges, auf das ich gerade zugehe, nur um einiges komplexer? Umso weiter ich diesen Gedanken zu versinken drohe, höre ich ein wirklich unangenehm quietschendes Geräusch.
Ich bleibe stehen.
Das Geräusch verstummt.
Ich gehe weiter.
Es ist wieder da.
Oje, das bin ich!
Genauer gesagt meine Schuhe?
Ich frage mich, warum?
Die Schuhe sind imprägniert, die Sohle ist neu, kommt das durch den Regen draußen? Meine beiden Füße klingen bei jedem Schritt, als würden zwei Enten auf Crack versuchen, einander im absoluten High und völlig weggeballter, einander mit hängenden Zungen die Notwendigkeit eines Bausparvertrags versuchen zu erklären, wobei keiner versteht, worum es wirklich geht!
Ich bemerke auch, wie ich mit jedem Schritt, ein wenig Aufmerksamkeit der Menschen um mich erhalte. Das klingt aber tatsächlich furchtbar schräg, wie sich meine Schritte anhören, aber stehen bleiben ist keine Option. Ich passiere quietschend einige Ladengeschäfte, unter anderem eine Eisdiele, in der überwiegend junge Familien, sichtlich aufgeregt, für ihre Social-Medial Accounts posieren. Mit abenteuerlich dekorierten Eisbechern, frisch frisierten Haaren und stellenweise mit aufgespritzten Lippen, fotografieren sie sich mit ihren Smartphones gegenseitig. Gefallen daran, haben sichtlich nur die Erwachsenen dabei zu haben. Die Kinder wirken irritiert und genervt, weil sie nicht anfangen dürfen, ihr Eis endlich zu essen, sondern beim Spiel ihrer Eltern mitmachen müssen.
Ich quietsche weiter Richtung Supermarkt, direkt auf einen Stand einer Tierschutz-Organisation zu. Dort versucht mich ein sichtlich unmotivierter junger Mensch dazu zu animieren zu spenden. Es geht um die vom aussterben, bedrohten Orang-Utans in Süd-Ost Asien. Ich erkläre dem Tierschützer höflich, dass ich sein Anliegen lobe, ich es aber eher kritisch sehe, wenn man mit kapitalistischen Mitteln versucht, eine wiederum durch den Kapitalismus entstandene Zerstörung der Natur entgegenzutreten. Er hat sichtlich keine Lust, mit mir eine Diskussion darüber zuführen, dass die Ausübung seines Jobs, möglicherweise nur als ein hinnehmbarer Kollateralschaden des Kapitals wahrzunehmen ist, und hinzu, die Probleme der Orang-Utans vermutlich nicht lösen wird. Wir verabschieden uns dennoch höflich voneinander und ich bemerke, dass das Quietschen meiner Schuhe fast verschwunden ist.

Ich erreiche endlich das Licht am Ende dieses Ganges: den Eingang zum Supermarkt. Neben dem sympathischen Piepen der Kassen, welches immer erklingt, wenn ein Produkt über den Kassenscanner gezogen wird, ertönt der Refrain eines mir bekannten Liedes aus den 90er-Jahren aus dem Lautsprecher, welche überall im Supermarkt installiert und zu hören sind: „… Shiny happy people, Shiny happy people …“.

Der wird schon wieder werden!
Ich bahne mir meinen Weg durch die Waren gefüllten bunten Regale. Mir fallen im Supermarkt die vielen Angestellten auf, welche vermutlich gerade mal für den Mindestlohn, die Regale mit neuen Waren auffüllen. Ich denke mir: krass, acht Stunden am Tag gehen sie von A nach B und füllen ein Regal nach dem Anderen auf, immer und immer wieder, Tag für Tag. Klingt mehr oder weniger frustrierend, oder?
Während ich nun mit leicht gedrückter Stimmung durch den Supermarkt gehe, ertönt eine Durchsage. Es ist eigentlich Werbung, aber auf nachhaltig gemacht. Genauer gesagt: Man tut so, als würde die Umwelt einem am Herzen liegen, um schlußendlich eigentlich nur zum Kauf von Produkten animieren zu wollen. Eine äußerst sympathische Stimme, erzählt mir was von Kartoffeln und Karotten aus der Region. Das klingt immer so nahbar und perfekt, oder? Vor dem geistigen Auge entsteht Bilder wie: ein sattes Feld im Sonnenschein mit den erwähnten Kartoffeln und Karotten. Die Kamera schwenkt auf einen glücklichen und zufriedenen Bauer am Feldrand, der dabei zuschaut, wie Mutter Natur schützend seine Hand darüber hält, und veranlasst, dass alles natürlich wachsen und sich entwickeln kann. Aber ist es das auch wirklich so? Ich denke in den meisten Fällen eher nicht!
Aber wie nahbar ist unsere Welt überhaupt noch, oder das, was wir Welt nennen? Oder ist es wie die vermeintliche Rettung der Orang-Utans in Süd-Ost Asien? Einerseits ist es weit weg, aber doch thematisch hier? Anderseits ist es hier, aber doch thematisch weit weg? Ehrlich: Ich komme nur schwer aus meiner Gedankenschleife gerade wieder raus, es wird immer abstrakter, alle meine Gedanken zu verarbeiten und die Eindrücke um mich herum einordnen zu können.
Da begrüße ich doch lieber all die bunten Magazine und Tageszeitungen, welche mir mittlerweile an der Kasse angekommen, die Wartezeit verkürzen. Auch kann ich es nicht erwarten meine Waren aufs Band zu legen, damit diese, mit einem Piep-Geräusche des Kassen-Scanners nach dem Bezahlen, zu meinem Eigentum werden und ich endlich nach Hause gehen kann.
Ich schweife mit meinen Blicken über die Magazine. Das Angebot ist wirklich erstaunlich. Neben all den Hochglanz-Magazinen zu Technik, Autos, Psychologie, Kreuzworträtseln, TV-Programmen, Essen, Gesundheit, Hochzeitsplaner, Hauspflanzen, Finanzen, Reisen, Haustieren, Bauen, Wohnen, Sport, Modellbau, Promis usw. bleibt mein Blick bei den regionalen und überregionalen Tageszeitungen stehen. Ich lese die Schlagzeilen und sehe mir die abgedruckten Bilder dazu genauer an: zerbombte Städte in der Ukraine, furchtbare Ereignisse in Nah-Ost. Ich sehe und lese von Überflutungen, Erdbeben-Opfern, Kriegen, Klimakrise, Inflation, Populismus, Faschismus, Energiekrise, Leid, Hunger uns so weiter.
„Unsere Welt ist ein grausamer Ort, weil wir ihn grausam gestalten“, denke ich mir und atme tief durch. In all diesem nahezu perfekten Einkaufsglück schaue ich gerade in den Abgrund, so fühlt es sich für mich an. Privilegiert stehe ich nun dort und schaue auf all diese Geschehnisse. Was passiert in dieser Welt, frage ich mich?
Ich nehme schon sehr lange viel Hilflosigkeit, Überforderung, Verzweiflung und Angst in meinem Umfeld war. Die Politik antwortet oftmals leider immer wieder mit den identischen fantasielosen Parolen. Was aber auch mit dazu führt, dass das unmenschliche und dumme Geschrei vieler Faschisten immer mehr Reichweite erhält, was mir außerordentlich Angst bereitet.
Aber in einem sind sich unweigerlich scheinbar fast alle politischen Lager einig: dem unendlichen und scheinbar unumstößlichen Glauben an den Neo-Liberalen kapitalistischen Traum vom ewigen Wachstum. Haben wir nicht seit einigen Jahrzehnten, Wirtschaftskrisen und einem echt brutalen Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich, als Spezies wirklich nichts dazu gelernt? Oder sind wir wirklich so fantasielos oder dann doch eher egoistisch? Oder wollen wir es einfach nicht wahrhaben, dass der Kapitalismus vielleicht doch nicht das wahre ist. Der Vergleich klingt jetzt wirklich hart, aber ich finde, das Verhalten zwischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft zum Kapitalismus ist in etwa, wie ein Hundebesitzer, der den traurigen Verlusten seines vierbeinigen Freundes nicht wahrhaben möchte. Jeden Morgen leint er trotzdem den Kadaver seines verstorbenen Hundes an, und schleift, im festen Glauben an eine Wiederbelebung, das verwesende Tier in seiner Totenstarre hinter sich durch den Park. Stets in der Hoffnung, dass der Widerstand an der Leine auf einmal schwinden wird, und das Tier, wie in den schönsten Erinnerungen, glücklich überall mit Urin sein Revier markiert. Das wird aber nicht passieren, aber wahrhaben, dass es so ist, will er hingegen auch nicht. Seine Antwort, wenn ihn jemand auf seinen toten Hund anspricht „Ach, der wird schon wieder werden!

Utopie durchkreuzt
Das Piepen der Kassenscanner wird lauter, in der Warteschlange an der Kasse geht es langsam voran. Ich bin am Zeitungsregal vorbei. Gleich bin ich dran mit bezahlen. Ich schaue Richtung Ausgang und sehe den Security-Mitarbeiter am Ausgang in seiner neogelben Weste stehen. Jeder Person, die rein oder herausgeht, schaut er fokussiert an. Als würde er jeder Person, die hereinkommt, sagen wollen: Ich erwische dich, falls du versuchst zu stehlen. Und wenn man herausgeht, habe ich das Gefühl, dass er, mit seinem Blick, alle etwas dafür mitverantwortlich macht, dass er dort acht Stunden am Tag stehen muss. Unter seiner Gelben Security-Weste trägt er einen schwarzen Kapuzenpulli. Mir fiel aus, dass auf dem Pulli in Druckbuchstaben, und Gold reflektierend das Wort „QUEEN“ zu lesen ist. Vielleicht ist er ja ein Fan der Band, frage ich mich, ich weiß es nicht.
Urplötzlich höre ich hinter mir aus einem Handy-Lautsprecher, in furchtbarer Qualität, schlecht produzierte elektronische Musik. Ich drehe mein Kopf, um zu schauen, was hinter mir passiert, während ich meinen Einkauf fertig in meinen Rucksack räume. Ich sehe eine Gruppe Jugendlicher, welche sich ihre Wartezeit in der Schlange vor der Kasse mit dem Herstellen eines Tanzvideos für eine Social-Media Platform verkürzen will. Das ist mir prinzipiell egal, aber ihre Bühne und der Hintergrund sind die Tageszeitungen, mit all den furchtbaren Schlagzeilen und Bildern. Ich nehme ihnen das nicht übel, was sie tun, aber ich befürchte, dass sie es nicht mal bemerken werden, vor welchen Themen sie dort gerade ihr kurzes Tanzvideo produzieren. Oder was ihr Handeln mit all diesen Themen eigentlich über unsere Zeit und Welt aussagt:
Vor dem Leid und Schrecken der Welt, noch mal schnell ein 15 Sekunden Dance für neue Follower hingelegt. Für ein wenig Aufmerksamkeit fallen die moralischen Hemmungen sichtlich überall immer intensiver, denke ich mir. Aber ich bin gerade eigentlich nur noch erschöpft und will nach Hause gehen. Der Security am Ausgang sage ich „auf Wiedersehen“. Er reagiert zögerlich mit einem Blick, den er mir zuwirft. Na ja, wer weiß, wo er in Gedanken gerade ist. Vielleicht hat er nach einigen Stunden einfach innerlich abgeschaltet, wer will ihm das verübeln. Vielleicht aber singt er in seiner Fantasie gerade mit Freddy Mercury ein Duett in Wembley vor über 100.000 Menschen? Sie klingen im Sonnenuntergang von London gemeinsam mit zigtausend frenetisch mitsingenden Fans *We are the Champions an.* In seinen Gedanken stürmt er mit dem Mikrofon in der Hand an den Rand der Bühne und spürt die Energie eines im zujubelnden Stadions. Er verspürt einen kühlen Windzug, welcher seinen aufgeheizten Körper ein wenig abkühlt, während er sich schweiß gebadet zur Band dreht, beide Arme in die Höhe reißt, um den Refrain in wenigen Momenten anzustimmen.

Die Türen schließen sich hinter mir. Ich vernehme das Geräusch der beiden Abstandhalter auf der Türinnenseite, welch beim Schließvorgang leicht aneinander stoßen. Ich stehe wieder im Dunkeln, es regnet noch immer in Strömen. Während ich nach Hause gehe, denke ich mir: Letztlich, haben wir Menschen noch eigentlich alle sehr identische Bedürfnisse, Wünsche, Hoffnungen und Ängste, oder nicht? Was ist so schwer daran zu verstehen, dass wir uns bei aller Individualität, alle oftmals sehr ähnlich sind, und mit ein wenig Toleranz und Verständnis niemand sich ausgegrenzt füllen müsste. Während ich gedanklich beginne, mir eine Idee von Utopie zu skizzieren, durchkreuzt der Mann mit seinem toten Hundekadaver an der Leine meinen Weg. Er schleift den Neo-Liberalen Kapitalismus hinter sich her. Der Kadaver richt schon sehr streng, aber das scheint hier niemanden mehr zu stören!

Immerhin quietschen meine Schuhe nicht mehr, was für ein persönliches Glück!
Ich wünsche allen Menschen einen guten Rutsch ins neue Jahr.

Alles Gute.
Florian Albrecht-Schoeck, 28.12.2023

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