Ein Ende zum Anfang
Wir schreiben das Jahr 1995. Ich bin 15 Jahre alt und stehe in einem Musikgeschäft in Darmstadt. In der linken Hand halte ich die brandneue CD „Stranger Than Fiction“ der Band Bad Religion. In der anderen Hand etwa 30 Mark in bar. Ich erinnere mich noch, wie ich die CD das erste Mal zu Hause gehört habe und dachte: „Wow, das ist es.“
Fast 31 Jahre später halte ich die CD von damals in meinem heutigen Zuhause wieder in der Hand – gefunden beim Aufräumen. Die Geldwährung von damals gibt es längst nicht mehr, und bar bezahle ich auch kaum noch. Ich betrachte die CD und die Hülle von damals. Ein paar Kratzer und Schrammen sind in über einem Vierteljahrhundert dazugekommen, genauso wie bei mir. Ich lege die CD in meinen CD-Player, drücke Play. Sie läuft perfekt, wie damals im Jahr 1995, und ich denke mir: „Wow, das ist es.“
Ich höre die Platte komplett durch. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Etwas Nostalgie? Ja, das gebe ich zu. Aber die Dynamik der Platte ist bis heute einfach gut. Ich sitze einfach da und höre Musik. Dabei freue ich mich, dass ich meine alten, klobigen Stereoboxen seit über 25 Jahren niemals weggegeben habe. Während ich so dasitze, frage ich mich: Wann habe ich das letzte Mal so Musik gehört? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht mehr.
Wie höre ich aktuell Musik? Smartphone an, Streaming-Anbieter-App öffnen und sich beschallen lassen. Ganze Alben höre ich kaum noch, nur noch einzelne Lieder – ohne Dramaturgie, zusammengestellt von einem Algorithmus. Das ist schon merkwürdig, finde ich. Denn mehr oder weniger ist das doch, als würde ich mir ein Bild in einer Ausstellung auch nur in einzelnen Fragmenten anschauen und nie das gesamte Werk wahrnehmen.
Während ich weiter Musik höre, ziehen meine Gedanken immer weitere Kreise: Ob Musik, Filme, Serien, Nachrichten, Kunst, Kommunikation, Wissen, Meinungen, Ansichten – eigentlich kommt fast alles nur noch in einzelnen Fragmenten bei mir an. Das meiste auf meinem Smartphone, schön verpackt in bunten, netten Applikationen hinter Icons mit abgerundeten Ecken. Sie alle erheben den Anspruch, mich 24/7 am Bildschirm zu halten. Das fühlt sich an, als versuchte ich, mich den ganzen Tag auf alles in der Welt zu konzentrieren – aber wenn ich ehrlich bin, auf nichts richtig. Eigentlich bin ich immer abgelenkt und vergesse ständig, was ich eigentlich machen wollte.
Ich denke nach und bemerke plötzlich, dass es still um mich geworden ist: Es läuft keine Musik mehr. Ich schaue auf die leuchtende Digitalanzeige des CD-Players. Die CD ist zu Ende. Einfach vorbei. So wie damals das Fernsehen eine Sendepause hatte oder ein Buch über eine letzte bedruckte Seite verfügt, hat auch die Spielzeit eines Musikalbums ein Ende. Im Grunde hat alles ein Ende – zugespitzt formuliert auch unsere Existenz, selbst unsere Erde, auf der wir leben. Sie wird eines Tages in der Sonne verglühen, in ein paar Millionen Jahren. Dann ist auch hier Ende Erde angesagt. Doch ein gewinnorientierter Streaming-Dienst oder die Timeline einer konzern-gesteuerten Social-Media-Plattform auf meinem Smartphone trotzen der Vergänglichkeit! Sie kennen kein Ende. Das Ende stelle nur ich dar – als schwaches Individuum mit Ablaufdatum in Form meiner Lebenszeit. Das gilt aber nicht für die Angebote und Inhalte. Ist das nicht unheimlich?
Man hat Zugang zu Musik, Filmen, Büchern, Posts, Meinungen, Storys, Geschichten, Dramen – zu so vielem, dass man in seinem Leben niemals alles hören, sehen oder lesen könnte, auch wenn man es wollte. Das niemals endende Angebot lässt sich auch wie der Traum des Kapitalismus verstehen: Nonstop-Angebot – ein Versprechen von ewigem Wachstum. Ein Geschäft, das rund um den Globus immer geöffnet hat und Rendite abwirft. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr stelle ich die vermeintlich bunte und komfortable digitale Welt hinter meinen Geräten in Frage.
Wer mich persönlich kennt, weiß, dass ich Technik toll finde. Ich würde mich auch selbst als Nerd beschreiben. Aber ein Computer – und das ist ein Smartphone im Grunde auch – ist ein Werkzeug, das ich an meine Bedürfnisse anpasse und nicht umgekehrt. Hier geht es um Souveränität und Verantwortung.
Ein kleines Beispiel: Falls Sie einen Musik-Streaming-Anbieter nutzen: Wissen Sie eigentlich, warum der Anbieter Ihre GPS-Daten möglicherweise erfasst oder Ihre Laufgeschwindigkeit analysiert – und womöglich die Daten auch noch weiterverkauft? Sind Ihre Daten so wichtig und die Musik als Angebot vielleicht nur ein Vorwand, um an Ihre Daten zu kommen? Was sind das für Daten, und was passiert damit? Oder wer weiß, mit welchen Personen Sie in einer Messenger-App verknüpft sind und kommunizieren? Ein auf Gewinn existierender Konzern in vielen Fällen. Was, wenn man innerhalb von Millisekunden Ihr gesamtes Umfeld visualisieren kann und ganz genau weiß, mit wem, wann, wo und wie oft Sie in Kontakt stehen? Da helfen auch keine verschlüsselten Nachrichten: Diese Metadaten liefern Sie automatisch bei den meisten Anbietern mit.
Ich will niemanden beunruhigen, aber ich möchte zum Nachdenken anregen. Nachdenken über die Tatsache, dass Dienstleister und Konzerne in großem Umfang unseren Alltag bestimmen, gestalten, analysieren und bewerten – und schließlich damit Geld verdienen. In vielen Gesprächen über diese Themen habe ich oft wahrgenommen, dass Menschen überfordert sind, weil sie einfach von den Geräten und allem, was um uns herum geschieht, überfordert sind. Diesbezüglich kann ich nur sagen: Es gibt überhaupt keinen Grund, Sorge oder Angst vor Apps, Geräten, Technik oder auch der eigenen Bequemlichkeit zu haben. Für mich war es aber Zeit, dem ein Ende zu setzen. Mein Verhalten hat sich geändert, ohne dass ich auf Technik verzichten musste – das hat sich mehr als gelohnt.
Was habe ich geändert?

Ich habe wenig und gleichzeitig sehr viel verändert. Wichtig ist: Ich schreibe dies als Einzelperson und Künstler, der Einblicke in sein digitales Leben und die damit verbundenen Fragen gibt. Die Skizze, die ich mit Zettel und Stift entworfen habe – eine erste Struktur, wie ich meine digitale Umgebung umbaue –, ist nur ein Weg von vielen. Wir leben in einer verrückten Welt, daher zur Information: Natürlich werde ich von keinem der Anbieter oder Webseiten gesponsert, die ich hier nenne. Es gibt viele Alternativen. So viel dazu. Die A4-Skizze habe ich übrigens auch gerahmt und in mein Atelier gehängt. Sie ist nun ein Kunstwerk – zeitgemäß als Unikat mit Passepartout.
Um das Ganze etwas nachvollziehbarer zu machen, habe ich einige Themengruppen erstellt. Hier eine kurze Übersicht, was ich wie verändert habe:
- Kommunikation/Messenger
Ich nutze keine Messenger mehr, die außerhalb Europas entwickelt wurden. Die Auswahl ist zwar begrenzt, aber es gibt europäische Alternativen. Auf meinem Smartphone ist nur noch ein Messenger installiert – den kaum jemand in meinem Umfeld nutzt. Dafür erhalte ich wieder SMS, Anrufe oder E-Mails, wenn jemand etwas von mir will. Mein Alltag ist dadurch viel entspannter geworden. Mein E-Mail-Konto habe ich natürlich auch nicht kostenlos bei einem Konzern. - Musik
Musik begleitet mich ständig. Ich liebe Musik und entdecke gerne neue. Aber mit Streaming höre ich, wie anfangs erwähnt, nur noch fragmentiert Musik. Ich möchte Musik wieder bewusst erleben – so, wie Künstler:innen Alben konzipiert haben. Und ich möchte den Moment genießen, wenn ein Album zu Ende ist. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich bei mir viele CDs und LPs angesammelt. Bevor es Streaming-Dienste gab, habe ich regelmäßig neue Musik gekauft. Es gibt gerade im Internet viele Möglichkeiten, Musik von Künstler:innen zu kaufen, wo scheinbar viel mehr Geld bei den Künstlern ankommt, als bei den meisten Streaming-Diensten. Kurz gesagt: Ich kaufe wieder Musik als CDs, LPs oder Downloads. Zudem habe ich mir ein Gerät besorgt, mit dem ich unterwegs Musik hören kann – ganz ohne Smartphone, Streaming oder Internet, so wie früher. Mein Smartphone bleibt seitdem öfter zu Hause. Die Klangqualität ist zudem deutlich besser, und mein Streaming-Abo habe ich gekündigt. - Social Media
Ich habe nur noch einen Account auf einer Plattform. Eigentlich habe ich keine Lust mehr darauf, bin mir aber unsicher, ob ich ihn löschen soll. Die App habe ich jedenfalls vom Smartphone entfernt. Ich schaue nur noch gelegentlich über den Browser am Rechner nach – was ich ohnehin kaum tue. Mein Smartphone ist ohne Social-Media-Apps noch ruhiger und unwichtiger in meinem Alltag geworden. - Bücher, Literatur und Magazine
Ich lese viel. Um nicht alles am Bildschirm zu tun, habe ich Zeitungen und Magazine, die ich online las, wieder als Print abonniert. Ich merke, wie ich beim Lesen entschleunige – ohne Ablenkung, Anrufe, Push-Nachrichten und so weiter. Zudem leihe ich regelmäßig Bücher in der Stadtbibliothek aus. - Filme und Serien
Wie bei Musik und Literatur überlege ich mir bewusst, was ich wann anschaue. Ich nehme mir Zeit dafür. Dadurch schaue ich kaum noch etwas nebenbei – sondern wenn, dann bewusst. Zudem gehe ich wieder öfter ins Kino und nehme mir Zeit für „einen“ Film. - Alltags-KI-Tools
Ich selbst forsche und entwickle viel im Bereich Machine Learning/KI. Doch auch hier setze ich auf europäische Alternativen – und vermeide es, Daten unkontrolliert über den Atlantik zu schicken. - Sonstiges
Solche einfachen aber alltäglichen Dinge wie meine Notizen, wo ich wirklich auch sehr private Dinge mir notiere oder auch meinen privaten wie beruflichen Kalender möchte ich nicht mehr einem der großen Anbieter anvertrauen. Ich habe mir eine Nextcloud organisiert, über die ich meine Daten mit meinen Geräten synchronisiere. - Betriebssystem & Software
Ein großes Thema, kurz gesagt: Ich habe meine Rechner komplett auf Linux wieder umgestellt und nutze ausschließlich Open-Source-Programme. Ich setze mich nun wieder bewusst an den Computer, wenn ich etwas tun will, das ist großartig. - Browser und Server
Auch hier geht es um Kontrolle: Ich entscheide, welche Daten ich freigebe. Deshalb nutze ich einen eigenen Server und Browser, die helfen mehr Privatsphäre zu wahren.. Auch hier gibt es hervorragende Open-Source-Lösungen. Ich habe darüber in diesem Blogartikel bereits etwas erzählt.
Ein Anfang zum Ende
Zu Beginn dieses Textes bin ich 31 Jahre zurückgereist. Doch was werde ich in 31 Jahren – mit 77 – dazu sagen? Gibt es dann noch die CD, die ich 1995 gekauft habe? Vielleicht. Und die Anbieter von heute mit ihren Abos und Angeboten? Vielleicht existieren die auch noch. Aber woran werde ich mich wirklich erinnern?
Ich habe keine Geschichte, in der ich sage: „Dieser Song, den mir der Algorithmus damals in die Kopfhörer gelegt hat, als dies oder das passierte.“ Aber ich erinnere mich daran, wie ich bewusst Musik gehört habe. Wie ich vor einem Album saß und es durchlaufen ließ. An Bilder in einer Ausstellung kann ich mich erinnern, was bleibt von Bildern in einer Social-Media-Timeline?
Seit einigen Wochen hole ich mir meine digitale Souveränität zurück.
Manchmal stolpere ich natürlich über Probleme. Aber für jedes gab es bisher eine Lösung. Was ich aber tatsächlich bemerke: Es tut mir gut, wieder selbst zu entscheiden. Einfache Entscheidungen wie: Wann ich Musik höre, und was. Welchen Film ich mir wann anschaue. Was ich von mir preisgebe, und was nicht, und so weiter. Ich merke, wie das bewusste Entscheiden meiner Kreativität und Gedanken wieder mehr Raum für Ideen oder neue Fragen ermöglicht. Ich will nicht den ganzen Tag lang von irgendwelchen Algorithmen oder Push-Nachrichten abgelenkt oder beeinflusst werden.
Gleich werde ich mir die Veröffentlichungskataloge, von ein paar Indie-Labels anschauen und mir vielleicht ein Album kaufen. Ein richtiges Musikalbum, welches ich mir heute Abend in voller Länge anhören werde – ohne Ablenkung oder „Das könnte dir auch gefallen“.
Ich kann nur jeder Person empfehlen, sich mit ihren individuellen Bedürfnissen, Entscheidungen und Fragen im digitalen Kontext auseinanderzusetzen. Mir tut es gut. Ich hole mir auf jeden Fall meine Aufmerksamkeit und digitale Souveränität wieder etwas zurück. Das war für mich auch nur der Anfang, weil unsere Welt weitaus mehr ist als „Stranger than fiction“.
Alles Gute
Florian Albrecht-Schoeck, 27.12.2025
